«Es wird keinen neuen Kalten Krieg geben»
Der russische Angriff auf die Ukraine stellt die europ?ische Sicherheitsarchitektur in Frage. Welche Folgen sich daraus f¨¹r die internationale und schweizerische Sicherheitspolitik ergeben, erkl?rt ETH-Professor Andreas Wenger im Interview mit dem ETH-Magazin Globe.
Herr Wenger, geht mit dem russischen Angriff auf die Ukraine eine Epoche zu Ende, die mit dem Zerfall der Sowjet Union begann?
Andreas Wenger: Das kann man so sagen. Der Krieg in der Ukraine zwingt die europ?ischen Gesellschaften, sich von der Vision eines integrativen und liberalen europ?ischen Sicherheitssystems zu verabschieden. Denn diese Vision ist mit dem russischen Denken und Handeln nicht vereinbar. Krieg als Mittel der Politik ist leider nicht aus den Geschichtsb¨¹chern verschwunden.
Stellt der Krieg auch f¨¹r Russland eine Z?sur dar?
Aus russischer Sicht ging die Epoche nach dem Ende des Kalten Krieges offenkundig bereits fr¨¹her zu Ende. Mit dem Krieg in Georgien im Jahr 2008 signalisierte Putin, dass Russland keine Erweiterung der Nato mehr akzeptieren w¨¹rde. Und mit der Annexion der Krim 2014 und der ?verdeckten? Intervention in der Ostukraine wollte er die Integration der Ukraine in die EU verhindern. Es ist seit langem sichtbar, dass die russischen und westlichen Ordnungsvorstellungen nicht vereinbar sind. Der Westen hat es verpasst, sich ernsthaft mit der Neuausrichtung der europ?ischen Sicherheitsordnung auseinanderzusetzen. Besonders wichtig w?re gewesen, eine Antwort zu finden, welche Rolle Russland respektive die L?nder zwischen Russland und der Nato spielen sollen.
?Es ist seit langem sichtbar, dass die russischen und westlichen Ordnungsvorstellungen nicht vereinbar sind. Der Westen hat es verpasst, sich ernsthaft mit der Neuausrichtung der europ?ischen Sicherheitsordnung auseinanderzusetzen.?Andreas Wenger
Viele Menschen waren von der russischen Invasion der Ukraine ¨¹berrascht. Ging es Ihnen auch so?
Die Eskalation der Krise war f¨¹r mich keine ?berraschung. Das Aussergew?hnliche war ja gerade, dass Pr?sident Putin seine Forderungen offen auf den Tisch legte und damit den Westen in eine erste Runde der Krisendiplomatie zwang. Auch im milit?rischen Bereich ¨¹berraschte Russland den Westen nicht mit einem ?Fait accompli?. ?ber Wochen zog Putin eine umfassende Interventionsstreitkraft zusammen. Gleichzeitig intensivierte er in Russland die Kontrolle ¨¹ber die Presse und die Zivilgesellschaft. Nat¨¹rlich waren die Maximalforderungen Russlands v?llig unannehmbar f¨¹r die Ukraine und den Westen. Aber es wurde immer deutlicher, dass mit einer milit?rischen Intervention unbekannten Ausmasses zu rechnen war.
Wie erkl?ren Sie sich den Zeitpunkt des Angriffs?
Bei Putin scheint sich einerseits der Eindruck verdichtet zu haben, die Zeit laufe ihm davon, um sein politisches Verm?chtnis festzumachen. Aus seiner Sicht geh?rt Russland wieder zur¨¹ck an den Tisch der Grossm?chte. Er erwartet, dass diese den russischen Machtanspruch respektieren. Unter F¨¹hrung des ukrainischen Pr?sidenten Selenski verst?rkte sich aber die Westorientierung der Ukraine. Gleichzeitig sah sich Pr?sident Lukaschenko in Belarus aufgrund der Massenproteste gezwungen, n?her an Putin zu r¨¹cken. Innerhalb von Putins ?russischer Interessensph?re? war damit einiges in Bewegung. Andererseits d¨¹rfte Putin den internationalen Kontext als g¨¹nstig eingesch?tzt haben. Die USA pr?sentierten sich innenpolitisch weiterhin zerstritten. Aussenpolitisch machte die Administration Biden beim ¨¹berst¨¹rzten R¨¹ckzug aus Afghanistan keine gute Figur. Die Europ?er wiederum betrieben Nabelschau und mit dem Abgang von Angela Merkel fiel die letzte Klammer des alten Westens weg. Gleichzeitig vertiefte sich Russlands Partnerschaft mit China.
H?tte der Krieg durch ein entschlosseneres Handeln des Westens verhindert werden k?nnen?
Diese Frage wird zurzeit in amerikanischen Expertenkreisen intensiv diskutiert. Pr?sident Biden wird f¨¹r die fr¨¹hzeitige Ank¨¹ndigung kritisiert, die Nato werde keine Truppen in die Ukraine senden. Es wird argumentiert, dem massiven Zusammenzug russischer Truppen h?tte viel fr¨¹her mit einer milit?rischen Gegenmachtbildung begegnet werden sollen. Diese Vorw¨¹rfe greifen aus meiner Sicht zu kurz. Sie sind zu eng milit?risch gedacht und ¨¹bersehen, dass die Europ?er einer solchen Politik nicht gefolgt w?ren.
Was hat Sie in der ersten Phase des Krieges ¨¹berrascht?
Drei Entwicklungen haben mich ¨¹berrascht: das z?gerliche milit?rische Vorgehen Russlands; der ¨¹berraschend hartn?ckige Widerstand der ukrainischen Streitkr?fte und der ausgepr?gte Widerstandswille der Ukrainerinnen und Ukrainer; und schliesslich die raschen, koordinierten und unerwartet harten Gegenmassnahmen der USA und Europas. Diese drei Faktoren bestimmten in ihrer Interaktion den bisherigen Gang der Ereignisse.
Wie erkl?ren Sie sich das?
Die Schwierigkeiten der russischen Armee sind auf strategische, operationelle und taktische Defizite zur¨¹ckzuf¨¹hren. Die ukrainische F¨¹hrung wiederum hat den Informationskrieg mit allen seinen Schattenseiten gut geplant. Mit einer geschickten Strategie der politischen Internationalisierung l?ste sie eine breite Solidarit?tswelle aus. Offen bleibt vorerst, wie wichtig die verdeckte milit?rische Unterst¨¹tzung der USA f¨¹r die bisherigen Erfolge auf dem Schlachtfeld war. Entscheidend f¨¹r die westliche Antwort war zudem, dass die USA die politische F¨¹hrung den Europ?ern ¨¹berliess und sich auf die Verst?rkung der Abschreckungs- und Verteidigungsf?higkeiten der Nato konzentrierte.
Sind die mittel- und langfristigen Folgen des Krieges f¨¹r die internationale Politik bereits absehbar?
Vieles h?ngt vom weiteren Verlauf des Krieges ab. Wie immer nach Kriegen, werden die mittel- und langfristigen Konsequenzen erst sichtbar, wenn sich im Krisengebiet der ?Nebel des Krieges? verzogen hat und sich die innenpolitischen Debatten etwas beruhigt haben. So weit sind wir momentan noch nicht.
K?nnte der Krieg der Anfang vom Ende Putins sein?
Nach wie vor sind sehr unterschiedliche Ausg?nge des Krieges denkbar, mit unterschiedlichen Folgen f¨¹r Russland. Es k?nnte sich in der langfristigen R¨¹ckschau tats?chlich herausstellen, dass der Krieg das Ende von Putins Herrschaft eingel?utet hat. Ein Dialog ¨¹ber die Zukunft der europ?ischen Sicherheitsordnung und Neubeginn der russischen-europ?ischen Beziehungen k?nnte damit wieder m?glich werden. Vorerst scheint es allerdings wahrscheinlicher, dass sich Putin in einem isolierten Russland an der Macht h?lt und der Ukraine ein jahrelanges Aufstandsszenario droht. In einem solchen Szenario w¨¹rden die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland auf Jahre hinaus von der Logik der Abschreckung bestimmt, Russland w¨¹rde sich noch st?rker nach Osten ausrichten und die strategische Partnerschaft mit China d¨¹rfte sich vertiefen.
?Vorerst scheint es wahrscheinlicher, dass sich Putin in einem isolierten Russland an der Macht h?lt und der Ukraine ein jahrelanges Aufstandsszenario droht.?Andreas Wenger
Kommt es zu einem neuen Kalten Krieg?
Nein, die Welt wird keinen neuen Kalten Krieg wie im 20. Jahrhundert erleben. Daf¨¹r hat sich das internationale Umfeld zu stark gewandelt. Europa bildet nicht mehr den Angelpunkt eines bipolaren Systems. Der Schwerpunkt der Weltpolitik hat sich nach Asien und in den Pazifik verschoben. Die Beziehungen zwischen China und den USA bilden die Hauptachse in einem multipolaren System der Grossm?chte, um die herum sich Europa und Russland gruppieren. In einem solchen System m¨¹ssen Staaten aufgrund der vielschichtigen wirtschaftlichen und institutionellen Verflechtungen immer in gewissen Bereichen kooperieren, um in anderen Bereichen konkurrieren zu k?nnen.
Welche Rolle spielte die Rivalit?t zwischen den USA und China f¨¹r den Ausbruch des Krieges?
Sowohl der Ausbruch des Krieges als auch sein Ende k?nnen nur verstanden werden, wenn die Rollen der USA und Chinas mitber¨¹cksichtigt werden. China vertiefte die strategische Partnerschaft mit Russland im Vorfeld des Krieges auch deshalb, um ein Gegengewicht zur verteidigungspolitischen Partnerschaft zwischen den USA, Grossbritannien, Australien und Indien zu bilden. Das hat Putin den R¨¹cken gest?rkt. Die USA wiederum ¨¹berliessen die politische F¨¹hrung in der Ukrainekrise den Europ?ern, um sich vermehr auf Brennpunkte im Pazifik konzentrieren zu k?nnen. Washington will nicht in einen ?Zweifrontenkrieg? hineingezogen werden.
China hat sich stets f¨¹r die Prinzipien der territorialen Integrit?t und Nichteinmischung stark gemacht. Sehen wir gerade einen Wandel in der chinesischen Aussenpolitik?
Je l?nger und intensiver der Krieg wird, desto schwieriger d¨¹rfte es f¨¹r China werden, die Widerspr¨¹che in seiner Position zu kaschieren: Erstens, die russische Invasion nicht zu kritisieren, obwohl der Krieg nicht im Interesse Chinas sein kann. Zweitens, die westlichen Sanktionen zur¨¹ckzuweisen, ohne selber ins Visier westlicher Sanktionen zu kommen. Und drittens, die Prinzipien der unbedingten Souver?nit?t und territorialen Integrit?t, die auch f¨¹r die Ukraine gelten, vollumf?nglich aufrecht zu erhalten. Der Ausgang des Krieges wird auch R¨¹ckwirkungen auf die Partnerschaft zwischen Russland und China haben. Sollte sich diese vertiefen, d¨¹rfte sich Russland zunehmend zum Juniorpartner Chinas entwickeln.
Kommen wir auf die europ?ische Sicherheit zu sprechen. K?nnen Russland und Europa wieder zu einer stabilen Sicherheitsarchitektur finden?
Die Beziehung zwischen Russland und Europa ist sehr asymmetrisch. Russland ist milit?risch stark, wirtschaftlich hingegen keine globale Gr?sse. Die EU wiederum ist wirtschaftlich stark, milit?risch aber weiterhin abh?ngig von den USA. Streiten die beiden, trifft milit?rische Feuerkraft auf regulatorische Handelsmacht. Allerdings d¨¹rfte es sich Russland in Zukunft gut ¨¹berlegen, seine milit?rische ?bermacht in ?hnlicher Weise gegen¨¹ber einem Nato-Mitglied auszuspielen ¨C zu gross sind die Eskalationsrisiken im nuklearen Bereich. Russland und die EU m¨¹ssen lernen, Ordnungs- und Geopolitik zu verbinden, um langfristig wieder zu stabilen Beziehungen zu finden.
?Russland und die EU m¨¹ssen lernen, Ordnungs- und Geopolitik zu verbinden, um langfristig wieder zu stabilen Beziehungen zu finden.?Andreas Wenger
Die EU agierte nach Kriegsausbruch ¨¹berraschend geschlossen und einigte sich auf ein beispielloses Sanktionspaket. Wird sie in Zukunft eine dominantere Rolle der Weltpolitik einnehmen?
Entscheidend ist, dass Europa die improvisierten strategischen Entscheidungen der letzten Wochen kritisch reflektiert. Es ist der EU gelungen, ihre regulatorische Macht und ihre Normen an der Seite der USA als breites Zwangsmittel einzusetzen. Damit hat sie massiven wirtschaftlichen Druck auf Russland ausge¨¹bt. Allerdings hat sich gleichzeitig gezeigt, dass Sanktionsdrohungen nur beschr?nkt Wirkung erzeugen. Kommen sie erst mitten in der Krise zum Einsatz, besteht das Risiko, dass sie zur Isolation ganzer Gesellschaften und einer Spirale der Politisierung der Wirtschaft beitragen.
Deutschland will als Reaktion auf den russischen Angriff 100 Milliarden in die Bundeswehr investieren. Beginnt Europa nun mehr Verantwortung f¨¹r seine Verteidigung zu ¨¹bernehmen?
Die deutsche Wende hin zu h?heren Verteidigungsausgaben ¨C wird sie denn umgesetzt ¨C er?ffnet auf lange Sicht interessante Perspektiven. Sie k?nnte zu einer St?rkung der konventionellen milit?rischen F?higkeiten Europas und einer gewissen Angleichung der strategischen Kultur unter den EU-Mitgliedstaaten f¨¹hren. Auf absehbare Zeit hingegen bleibt Europa aber abh?ngig von den nuklearen Sicherheitsgarantien der USA.
Wie wirkt sich der Konflikt auf die Nato aus?
Putin hat das herbeigef¨¹hrt, was er verhindern wollte: Der Fokus der Nato ist wieder auf der B¨¹ndnisverteidigung, die Solidarit?t unter den Mitgliedstaaten zumindest kurzfristig besser als seit langem und die milit?rischen Abschreckungsf?higkeiten in Osteuropa sind robuster denn je. Auch die Koordination mit der EU hat sich verbessert, ebenso die Beziehungen zu Finnland und Schweden. Allerdings bleibt das politische Gleichgewicht zwischen den politischen und milit?rischen Funktionen des B¨¹ndnisses fragil. In einem multipolaren System kann sich die Lage rasch ?ndern, mit unmittelbaren R¨¹ckwirkungen auf den Zusammenhalt der Mitgliedstaaten.
Was meinen Sie damit?
Es ist beispielsweise m?glich, dass sich der Krieg in der Ukraine zu einem direkten Konflikt zwischen Russland und der Nato erweitert. Auch ein Regierungswechsel in den USA oder der Ausbruch einer milit?rischen Krise im Pazifik w¨¹rde nicht ohne R¨¹ckwirkungen auf das B¨¹ndnis bleiben. Daher bleibt die Frage im Raum, wie die Europ?er mehr Verantwortung f¨¹r ihre milit?rische Sicherheit ¨¹bernehmen k?nnen.
Sprechen wir am Ende noch ¨¹ber die Schweiz. Welche l?ngerfristigen Folgen sehen Sie f¨¹r deren Sicherheits- und Verteidigungspolitik?
Auch das h?ngt noch stark von Verlauf der Krise ab. F¨¹r die Schweiz ist entscheidend, wie die Grossm?chte auf den Ausgang der Krise reagieren und in welche Richtung sich die europ?ische Sicherheitsordnung weiterentwickeln wird. So h?ngt beispielsweise der Spielraum f¨¹r die k¨¹nftige Neutralit?tspolitik auch davon ab, ob es sich beim sehr weitreichenden Sanktionspaket gegen Russland um einen Einzelfall handelt oder ob damit zu rechnen ist, dass der R¨¹ckgriff auf Sanktionen als europ?isches Zwangsmittel zum Normalfall wird.
?F¨¹r die Schweiz ist entscheidend, wie die Grossm?chte auf den Ausgang der Krise reagieren und in welche Richtung sich die europ?ische Sicherheitsordnung weiterentwickeln wird.?Andreas Wenger
In der Schweiz fordern immer mehr Stimmen eine Aufr¨¹stung. Was halten Sie davon?
Wir m¨¹ssen vorschnelle Entscheidungen vermeiden und sorgf?ltig analysieren, mit welchen milit?rischen Mitteln sich die ukrainischen Streitkr?fte gegen einen mechanisierten Gegner mit deutlich ¨¹berlegener Feuerkraft ¨¹berraschend lange zu behaupten vermochten. Daraus muss die Schweiz dann die f¨¹r das Land relevanten Schl¨¹sse ziehen.
Zur Person
Andreas Wenger ist Professor f¨¹r schweizerische und internationale Sicherheitspolitik und Direktor des Center for Security Studies an der ETH Z¨¹rich.